Die Stärke des Umarmens

 

Umarmen, drücken, knautschen, kuscheln, streicheln, kneifen, kratzen und weitere Formen der Berührungen – sind existentielle Bedürfnisse des Menschen. Wenn wir ganz klein sind, sind Berührungen am wichtigsten und kommen gleich nach Nahrung und Schlaf. Ohne Berührungen können wir uns nicht entwickeln. Wir verlangen und schreien nach der Wärme eines anderen Körpers.

Wieso berühren wir uns so selten und so kurz im Erwachsenenleben?

Was bedeutet unser Körper für uns selbst und wie viel Aufmerksamkeit schenken wir ihm?

Unser Alltag hat die Aufgabe des Körpers mehr oder weniger mit der Rolle eines Produkts gleichgestellt. Den Körper braucht man um Noten, Punkte, Geld oder Dinge zu erbringen. Wenn er erkrankt, so gibt es dafür die nötigen Medikamente. Medikamente gegen alles, sogar gegen das Zittern der Beine im Schlaf. Medikamente sollen unseren Körper so schnell wie möglich wieder in Form bringen, damit er weiter Noten, Punkte, Geld oder Dinge erbringen kann. Natürlich ist es gut, wenn wir Sport treiben – im Winter Ski fahren (ohne Vorbereitung, einfach Ski an und die Piste hinunter!), im Sommer schwimmen, sonnenbaden, nebenbei ungesund essen. Erholungsurlaub ein oder zweimal in 360 Tage, ca. eine Woche lang. Diese Erholung ist eine Reihe von intensiven Aktivitäten – Ausflüge, Parties, Attraktionen. Dies bedeutet, es ist keine Erholung. Der Körper arbeitet ohne Pause.

Wieso beuten wir uns so sehr aus? Vielleicht weil wenn wir nichts tun würden, es uns nicht gäbe? Wir kennen uns nicht von der anderen Seite, da wir seit unserer Kindheit stets beschäftigt sind. Zwei- und dreijährige Kinder lernen Französisch, nehmen Ballettunterricht und üben Karate. Außerdem Logopäde, Physiotherapie, Rhytmik und das Erlernen der Muttersprache! Alternativ kommt noch hinzu: Tablet-Märchen, Tablet-Märchen, Tablet-Märchen. Wo bleibt die Zeit für die Erholung? Wo bleibt die Zeit für das Nichtstun? Wo bleibt die Zeit für Ruhe? Wo bleibt die ganze Zeit? Zum Glück gibt es noch die Nächte, wenn man schlafen kann. Doch wovon träumt man nach solch einem Tag?!

Der Körper ist ein faszinierendes Instrument, das – trotz dessen was wir ihm alles vorschlagen, und wozu wir unsere Kinder überreden – sich anpassen, regulieren und erholen kann. Dank dessen können wir immerfort unsere Kapazitäten erweitern und mehrere Lebenszenarios gleichzeitig umsetzen. Vervielfachen, multiplizieren, sichern, abspeichern, ansammeln, für später aufheben. Falls wir auf etwas besonders Wert legen, was unseren Körper betrifft, so ist es sein Aussehen. Dazu werden wir von unserer Kultur angespornt. Schönere Menschen haben es leichter im Leben! Wäsche waschen. Trocknen. Bügeln. Kleider wählen. Make-up. Frisur. Hübsch aussehen. Einen guten Eindruck machen. Unsere Lebenslage ändert sich, wenn wir keine Kraft mehr haben um gut auszusehen und unsere Lebenszufriedenheit sinkt drastisch.

Wir haben kleine und weinende Kinder, durch die wir uns selbst aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen. Wir erreichen nicht unseren erträumten beruflichen Status, für den wir jahrelang so viel geopfert haben. Menschen die uns nahe waren, beginnen sich für andere Leute zu interessieren, die ihnen Zuwendung schenken.

Wir beginnen zu erkranken – Kopfschmerzen, knarrende Knien, eine immer weniger elastische Wirbelsäule, Gedächtnisschwund, letztendlich: chronische Erschöpfung. Krankheiten sind natürlich die ideale Gelegenheit um uns daran zu erinnern, dass wir einen Körper haben. Der Körper setzt sich jedoch nicht nur aus Muskeln, Knochen und inneren Organen zusammen. Hinzu kommen noch Energiequellen, Vitalität, Geist, Vorstellungskraft, Empathie, Intuition und die Intimsphäre. Intimsphäre heißt Sex? – könnte jemand fragen. Intimität ist natürlich Sexualität mit dem/ der Partner*in, aber auch Nähe mit Kindern und Freund*innen oder ein Vergnügen, dass die Sinne berührt – Geschmack, Geruch und Gehör. Das ist Genuss! Unglaublich intim und genussvoll kann der Kontakt mit Speisen, Natur oder Musik sein und genau diese Intimität nehmen wir mithilfe unseres Körpers wahr und seiner Möglichkeiten die verschiedensten Feinheiten zu empfinden. Die Wahrnehmung dieser Nuancen zeugt von unserer Einzigartigkeit und bestätigt, dass wir keine programmierten Maschinen sind, erschaffen zum Erobern, Herstellen und schließlich zum Verbrauchen und Wegwerfen.

Lassen wir uns nicht verrückt machen mit dem Kult des Besitztums, der technischen Gegenstände, des Geldes. Zum Umarmen benötigen wir so wenig oder so viel wie den Körper. Was für ein fantastisches, intelligentes und feinfühliges Instrument! Zwei Körper aneinander drücken kann wahre Wunder bewirken, vom täglichen Stressabbau, über Vergebung, Toleranz bis zur selbstlosen Liebe. Nicht alles im Leben ist eine Ware und nicht alles kann man mit Geld erreichen.

Das Leben dient dazu, es zu leben.

https://vimeo.com/295818837